Zur Aktualität der Freundschaft – und immer wieder Hannah Arendt

Andree Michaelis-König

6/7/20248 min read

Hannah Arendt mag heute vor allem als Denkerin nach und im Angesicht des Totalitarismus im 20. Jahrhundert bekannt sein. Doch nicht ihr großes Werk Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, nicht ihr umstrittenes Eichmann-Buch und auch nicht (mehr) ihre scharfen Einsichten in die Existenzbedingungen des Flüchtlings (Wir Flüchtlinge) werden in den letzten Monaten im Feuilleton zitiert. Vermehrt begegnet heute vielmehr eine bemerkenswerte Rede, die Hannah Arendt 1959 hielt, als ihr der Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg verliehen wurde. Es handelt sich um einen der ersten großen Auftritte der 1933 aus Deutschland geflüchteten und 1941 in die USA emigrierten jüdischen Intellektuellen im Land der Täter*innen nach dem Holocaust. (Voran ging die Laudatio auf Karl Jaspers anlässlich des ihm 1958 verliehenen Friedenspreises des deutschen Buchhandels). Arendts Rede ist Antwort und Aufgabe für die bundesdeutsche Gesellschaft zugleich, die sich zu dieser Zeit einer Auf- oder Verarbeitung des Judenmords noch kaum gestellt hatte.

Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten betitelte Arendt ihre Rede, in der sie ihr vielleicht wichtigstes Thema: die Haltung des Menschen zur politischen Öffentlichkeit mit Überlegungen zum Wirken Gotthold Ephraim Lessings und den Existenzbedingungen als Jüdin im nationalsozialistischen Deutschland verknüpfte und so eine ebenso komplexe wie provokative Intervention im damaligen Hamburg aufs Podium brachte. Das Schlüsselkonzept, mit dessen Hilfe sie diese Verknüpfung vollzieht, ist das der Freundschaft – ein weiteres, für Arendt elementares, wenngleich in keinem ihrer Werke zentral gestelltes Thema (vgl. hierzu etwa Nixon 2015).

Hannah Arendts Rede über Menschlichkeit, Lessing und die Freundschaft wird nun gerade in den letzten Monaten immer wieder zum Gegenstand und Bezugsmoment öffentlicher Debatten. Am 12. Dezember 2023 fand in Hamburg eine Gesprächsrunde der Körber-Stiftung mit den Soziologen Heinz Bude und Natan Sznaider sowie der freien Autorin Karin Wieland statt, die ganz der Rede gewidmet war. Die drei Autor*innen arbeiteten zugleich an einer Theateradaption des Redeauftritts, mit der sie das öffentliche Bild der Person Hannah Arendt in ein neues Licht stellen wollen. Einen Monat darauf, am 15. Januar 2024, strahlte der RBB eine Sendung in der Reihe „Der zweite Gedanke“ aus, in der die Autor*innen Sasha Marianne Salzmann und Paula Fürstenberg über ein „Leben in Freundschaft“ als alternative Lebensform sprechen. Referenzpunkt dieses Gesprächs ist auch das knapp ein Jahr zuvor erschienene Buch von Geoffroy de Lagasnerie 3. Une aspiration au dehors. Eloge de l’amitié, in dem der Autor zusammen mit dem Soziologen Didier Eribon und Édouard Louis das subversiv-alternative Potential von Freundschaft untersucht. Salzmann griff ihre Überlegungen zu Arendts Rede schon kurz darauf in ihren mittlerweile unter dem Titel Gleichzeit. Briefe zwischen Israel und Europa veröffentlichten Gesprächen mit dem israelischen Schriftsteller Ofer Waldman wieder auf. Schließlich setzte der amerikanische Philosoph Omri Boehm am 20. März 2024 in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, die er für sein Werk Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität erhielt, wiederum die Thesen Arendts zentral, betitelte seine Rede gar: Freundschaft in finsteren Zeiten.

Wie kommt es, dass Arendts Rede neuerdings wieder so aktuell ist? Sicherlich ist es kein Zufall, dass die Rückbesinnung auf Arendts Positionierungsversuch als exilierte Jüdin im noch weitgehend judenfeindlichen Nachkriegsdeutschland der 1950er Jahre nach dem 7. Oktober 2023, nach dem Angriff der Hamas auf Israel und den daraus entstandenen Kriegsfolgen im Nahen Osten, neues Interesse auf sich gezogen hat. Bude, Sznaider und Wieland etwa sehen gerade in der Performanz von Arendts Auftritts 1959, den damit einhergehenden subjektiven (Verfolgungsangst) und objektiven (Vereinnahmung) Gefahren und Arendts Umgang mit diesen Bedingungen einen hoch aktuellen Bezug. Es spiegelt sich darin die Situation der Juden*Jüdinnen, die nach dem 7. Oktober in Deutschland leben und sich versteckt halten, um jede direkte Konfrontation bangen und oft auch nicht mehr wissen, auf wen – welche Freund*innen – sie sich verlassen können, wenn die Situation eskaliert.

Arendt hatte in ihrer Rede Lessing ein gewisses Genie der Freundschaft zugesprochen, das sich nicht zuletzt in seinem Meisterwerk Nathan der Weise ausdrücke. Eine „Haltung zur Welt“ (Arendt 1989 [1959], 17) erblickt Arendt bei Lessing, die gerade deshalb in „finsteren Zeiten“ zum Vorbild werde, weil sie durch Provokation und Kritik ein unabschließbares „Gespräch zwischen Denkenden in Gang“ (24) halte. Auf dies Sprechen trotz allem kommt es ihr insbesondere an. Denn es ist das (Streit-)Gespräch, das die Menschen in gleicher Weise aufeinander bezieht und in der nötigen Distanz behält, die nötig ist, um das zwischen ihnen entstehen zu lassen, was Arendt „Welt“ nennt. Gemeint ist damit zugleich der Spielraum für unterschiedliche Perspektiven wie auch ein Verbindendes, Bleibendes in einer von Vergänglichkeit und Sterblichkeit gezeichneten menschlichen Realität.

Hierauf bezieht sich auch Sasha Marianna Salzmann. Im Podcast mit Paula Fürstenberg hebt Salzmann die Bedeutung des „Lebensmodells“ Freundschaft nicht zuletzt für queere Personen als Alternative zur staatlich sanktionierten heteronormen Ehe hervor. Auf Freundschaft kommt Salzmann gerade deshalb immer wieder zurück, weil sie in diesem Zusammenhang immer auch politisch ist. Politik gehöre ganz explizit in die Freundschaft. Salzmann: „Man bespricht die Welt die ganze Zeit miteinander; das ist das, was uns zum Menschen macht; Brüderlichkeit ist etwas, das vorausgesetzt wird: ihr seid vom gleichen Genpool, vom gleichen Blut“. In den eigenen Texten, so heißt es, schlage Salzmann daher „immer Freundschaft vor“, obwohl oder gerade weil sie „als Lebensmodell […] immer noch als ungewöhnlich“ gelte.

Auch bei Hannah Arendt war die Wende zur Freundschaft eine politische Geste. Ihre besondere Position zeichnet sich dadurch aus, dass sie dezidiert als Jüdin spricht, die sich 1959 in Deutschland an ein mit größter Sicherheit nationalsozialistisch verstricktes Publikum wandte. Mit diesem von ihren Gastgebern alles andere als erwünschten Insistieren darauf, als verfolgte Jüdin zu sprechen, verleiht Arendt der Freundschaft den für sie spezifischen Charakter: Nicht geht es dabei um die gegenseitige Nähe der Verfolgten, die gewissermaßen unter Zwang zusammengebracht wurden. Auch dem Konzept der Brüderlichkeit erteilt Arendt eine klare Absage: Sie bringe zwar Menschlichkeit hervor, aber um den Preis der Öffentlichkeit, mithin des Bezugs auf die politische Realität, die zwischen allen Menschen existiert und nicht nur zwischen den miteinander verbrüderten. Nein, es geht Arendt um Freundschaft als Hinwendung zu einer anderen Person in voller Erkenntnis der untereinander herrschenden Differenzen:

„So wäre es etwa unter den Verhältnissen des Dritten Reiches im Falle einer Freundschaft zwischen einem Deutschen und einem Juden nicht ein Zeichen von Menschlichkeit gewesen, wenn die beiden gesagt hätten: Sind wir nicht beide Menschen? Damit wären sie der Wirklichkeit und der ihnen damals gemeinsamen Welt bloß ausgewichen […]“ (Arendt 1989, 39)

Denn zu dieser „gemeinsamen Welt“ gehört eben auch die „Wirklichkeit der Verfolgung“ (ebd.) und der Diskriminierung. Mit dieser Einsicht verbindet sich eine fundamentale Grundhaltung Arendts, die Heinz Bude im Rahmen des erwähnten Podiumsgesprächs als Kerngehalt der Rede hervorhob, nämlich die unbedingte Ansicht, „daß man sich immer nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist“ (34).

So ist Freundschaft für Hannah Arendt eine Lebenshaltung, in der man sich nicht verstellen muss. Auch ist sie der Wahrheit nur dort uneingeschränkt verpflichtet, „wo sie durch das Sprechen vermenschlicht wird“ (Arendt 1989, 48). Wichtig ist Arendt vielmehr, dass diesem Gespräch mit den Freund*innen eben keine Wahrheit, kein vermeintliches Wissen über die Welt – und erst recht nicht das der Naturwissenschaften – im Weg stehen darf. Wenn eine Wahrheit dazu verleitet, das Gespräch selbst auszusetzen, ist nicht den Freund*innen, sondern dem Stellenwert dieser Wahrheit zu misstrauen. Das Beispiel, das Arendt zur Veranschaulichung dieses politisch-ethischen Grundsatzes der Freundschaft ihren deutschen Zuhörer*innen entgegenbrachte, ist heute umso überzeugender, wie es damals durchaus schockiert haben muss: Darf die sogenannte Rassenlehre, auf die sich der Nationalsozialismus so fundamental stützte (und die noch weit darüber hinaus eine wertende Unterscheidung von Menschen verschiedener Hauptfarben zu legitimieren vermeinte), als ein Grund herhalten, andere Menschen als Menschen zu degradieren und ultimativ zu vernichten? Gibt es eine auf vermeintlich wissenschaftliche Wahrheit gegründete Sicht auf die Welt, die das Gespräch mit dem anderen Menschen als gleichwertiges Gegenüber auszusetzen erlaubt? In den Worten Arendts: „Wäre eine solche zwingend erwiesene Lehre es überhaupt wert gewesen, ihr auch nur eine einzige Freundschaft zwischen zwei Menschen zu opfern?“ (46) Dagegen spricht für Arendt indes nicht nur die Einsicht, dass für die Wissenschaftler*innen selbst „ihre ‚Wahrheiten‘ niemals endgültig sind und in der lebendigen Forschung dauernd radikal revidiert werden“ (45). Vielmehr geht es ihr mit Lessing und seinem Nathan um eine Diskursethik der Freundschaft, die eine Pluralität von Meinungen zulässt, um vor allem das Sprechen der Menschen miteinander in Gang zu halten. Freundschaft ist gleichsam der politische Mutterboden für diese Gespräche, weil sie darauf angewiesen ist, den*die Andere*n im miteinander Sprechen zuallererst kennenzulernen, während sich die Mitglieder einer Familie immer schon zu kennen meinen, weil sie ‚gemeinsames Blut‘ miteinander teilten.

Diese Ethik eines Gesprächs unter Freund*innen liefern Philosophie und Praxis der Freundschaft bei Hannah Arendt. Sie gemahnt uns, dass Gespräche – und zwar durchaus sachliche; freundschaftliche und sachliche – gerade in Zeiten der Erschütterung und der Krise nötig sind. In diesem Sinne liest sich auch das Fazit, dass Salzmann und Waldman aus ihren Dialogen nach dem 7. Oktober 2023 gezogen haben:

„Gewalterfahrungen katapultieren Menschen aus der Welt. Das hier ist der Versuch, sich wieder in die Welt zurückzuschreiben. Sich die Welt wieder zusammenzuschreiben, Stück für Stück. Und sich die für immer entstandenen Risse zu vergegenwärtigen. Dafür braucht es ein Gegenüber. Dafür braucht es Sprache. Und dafür braucht es Freundschaft, denn erst an der Freundschaft erweist sich die Menschlichkeit – so steht es bei Hannah Arendt, deren Worte uns in den letzten Wochen immer wieder in den Sinn kamen.“ (Salzmann/Waldman 2024, S. 136f.)

In den Sinn kam sie auch dem israelisch-amerikanischen Philosophen Boehm, der in seiner Dankesrede den gesamten Horizont der Rede mitsamt seines Bezugs auf Lessing (und Mendelssohn, den Arendt geflissentlich beiseite gelassen hatte) auf den aktuellen Disput über den Krieg in Gaza vergegenwärtigt. Auch er setzt auf die Fortsetzung des Gesprächs auch dann, wenn einander diametral gegenüberstehender Ansichten über die Welt dessen Ausgangspunkte sind:

„Meine palästinensischen Freunde wissen, dass jeder, der das, was mein Land in Gaza tut, ‚Selbstverteidigung‘ nennt, meine Identität zutiefst beschämt. Israelische und palästinensische Freunde können über das katastrophale Versagen unserer Brüder und Schwestern sprechen, wohl wissend, dass wir, wenn wir unseren Freunden danach nicht mehr ins Gesicht sehen können, auch nicht mehr in den Spiegel sehen können.“

Die Gegenüberstellung von Freundschaft und Brüderlichkeit ist auch hier zentral. Die Freundschaft, so Boehm, kann mehr als die verwandtschaftlich verbürgte Übereinstimmung in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit, und zwar gerade dann, wenn diese Selbstverständlichkeit versagt:

„Freundschaft war immer der Test, der uns vor dem katastrophalen Versagen der Brüderlichkeit und dem grotesken Missbrauch abstrakter Ideen über bewaffneten Widerstand und Selbstverteidigung beschützt hat.“

Anders als es bei Arendt mit ihrem Bezug auf Lessing scheint, hält Boehm dabei auch auf an unbedingten (Tatsachen-)Wahrheiten fest: Nicht allein sollen Freund*innen einander nicht anlügen, sie sollen auch – aber das ist wieder ganz im Sinne Arendts – schwierige Wahrheiten in ihr Gespräch miteinbeziehen und so sprechend ‚vermenschlichen‘. Dies gilt gerade auch für Menschen in Deutschland, Juden*Jüdinnen, Palästinenser*innen oder solche, die mit einer dieser Gruppierungen sympathisieren: „[H]arte Wahrheiten müssen offen ausgesprochen werden, denn wir sollen Freunde bleiben.“

Immerhin sagt schon im Nathan Lessings Titelheld zum Tempelherrn unmissverständlich und rigoros: „Wir müssen, müssen Freunde sein.“ (II, 6, V. 533f.) Das aber heißt in unserer Situation im Sinne Hannah Arendts nichts anderes als: Wir müssen, müssen weiter miteinander sprechen, wenn wir einander als Menschen in der Welt begegnen wollen.

Kaum etwas scheint heute dringender geboten.

Quellen:

Arendt, Hannah: „Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, in: Menschen in finsteren Zeiten, München, Zürich: Piper, 1989, S. 17-48.

Lagasnerie, Geoffroy de: 3. Une aspiration au dehors. Eloge de l’amitié, Paris: Flammarion, 2023.

Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe, Bd. 9: Werke 1778-1780. Hg. von Klaus Bohnen u. Arno Schilson, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker-Verlag, 1993.

Nixon, Jon: Hannah Arendt and the Politics of Friendship, London, New York: Bloomsbury, 2015.

Salzmann, Sasha Marianna, und Ofer Waldman: Gleichzeit. Briefe zwischen Israel und Europa, Berlin: Suhrkamp, 2024.