Geoffroy de Lagasnerie: "3 – Ein Leben außerhalb"
Die „Lebensform“ Freundschaft als „Anti-Familie“ – eine Kurzbesprechung
6/7/20243 min read
Geoffroy de Lagasnerie, Jahrgang 1981, ist Professor für Soziologie und Philosophie an der École nationale supérieure d’arts in Paris-Cergy. Er publiziert in kurzen Abschnitten Bände zu soziopolitischen Streitfragen, oft an der Schnittstelle von Politik, Kunst und Kultur. Sein neuestes Buch schließt hieran an, ist aber zugleich wesentlich persönlicher und vielleicht auch deshalb einseitiger. Es geht darin um seine Erfahrung und Praxis von Freundschaft als einer alternativen Lebensform:
„Was wäre, wenn die Freundschaft als Kultur eine der praktischen Antworten auf die Frage nach der Möglichkeit wäre, andere Lebensweisen auszuprobieren?“ (S. 47)
Warum das Buch für mich interessant ist: Plädoyers für die Freundschaft sind nicht neu, und tatsächlich geht der Autor auch hier vor einer Vielzahl von Texten über Freundschaft aus (darunter solche von Agamben, Derrida, Barthes, Durkheim, Foucault und Bourdieu – letzteren beiden verdankt er wohl am meisten). Neu dagegen ist der betonte Fokus auf eine Beziehungskonstellation jenseits der „Paarform“. Von 3 Männern geht Lagasnerie aus, die zusammen leben, denken und schreiben. Indem es drei sind, wird zugleich die Verwechslung mit einer Liebesbeziehung eingeschränkt:
„[M]an kann keine Theorie der Freundschaft ausarbeiten, solange man sie – wie es so oft geschieht – in Gestakt der 2 begreift (weil er er war …). Denn dabei wird das Denken durch die Tatsache verzerrt, dass man die Freundschaft nach dem Modell der Liebe denkt.“ (121)
Einer dieser Freunde ist der französische Soziologie Didier Eribon, der dritte im Bunde der Schriftsteller Édouard Louis. Auch diese beiden interessieren mich, zumal zu erwarten war, dass Eribons kritische und selbstreflexive Perspektive auf soziale Klassenzugehörigkeit auch hier eine Rolle spielt. Diese Erwartung wird aber enttäuscht: um Klasse und Geschlecht geht es, zumindest auf der expliziten, argumentativen Ebene, fast gar nicht. Tatsächlich handelt es sich eher um einen kritischen Einspruch gegen die normative Dominantsetzung familiärer Beziehungen durch den Staat. Dies hat sich für Lagasnerie gerade während des Corona-Lockdowns als problematisch erwiesen:
„Und es ist zweifellos kein Zufall, dass der Wunsch, dieses Buch zu schreiben, genau in diesem Kontext geboren wurde. Der Text ist größtenteils das Ergebnis eines Aufstands gegen den Familialismus, der sich in die Gehirne der Regierenden, aber auch eines großen Teils der Gesellschaft eingeschrieben hat […].“ (84)
Was mir Probleme bereitet hat: In seinem argumentativen Kampf gegen die Familie als etabliertem Beziehungsgefüge, dem er die „Lebensform“ Freundschaft „als Anti-Familie“ (S. 119) entgegensetzt, wertet Lagasnerie nicht nur heterosexuelle Familienbeziehungen, sondern auch die Entscheidung, Kinder großzuziehen in einer irritierend unreflektierten Weise herab: Nicht allein die Familie, vor allem die Familie mit Kind wird ihm zum Gefängnis, dem er selbst biografisch gerade so entgangen sei:
„[W]enn ich ein Kind hätte, hätte ich dieses alleine, er [Eribon] sei bei diesem Projekt draußen, und dies würde fast zwangsläufig das Ende unserer Geschichte und gar sicher auf jeden Fall unserer Lebensweise bedeutet. Ich verzichtete also. Und heute denke ich, dass Didier […] mich gerettet und mir ermöglicht hat, ein viel intensiveres und glücklicheres Leben zu führen als das, in das ich mich selbst eingesperrt hätte.“ (78)
Mehr noch: Die Familie mit Kindern wird Lagasnerie, weil sie die Norm bestimme, zum Feind, der allen seine Zeitmanagement, seine Prioritäten und seine Strukturen oktroyiert. Dass Kinder zu bekommen und großzuziehen, durchaus vereinbar sowohl mit gleichgeschlechtlichen Beziehungskonstellationen als auch mit Freundschaft sein kann, geht bei dieser Argumentation verloren. Es bestimmt die Argumentation stattdessen ein unreflektiert männlicher Blick, dem die Zeit mit Kindern zu Last wird:
„Wie viele Werke sind nie entstanden, weil man, anstatt zu arbeiten, im Park spielen, eine Geburtstagsfeier organisieren oder sich bei Familienessen langweilen musste? Wie viele Werke wurden abgebrochen, weil Kinder geboren wurden?“ (136)
Die zelebrierte Alternative ist zudem eine der Privilegierten: ein intellektuelles Beziehungsgeflecht, das zum Schreiben führt und das Schreiben befruchtet. Die Dreierfreundschaft, die Lagasnerie nachzeichnet, ist explizit eine, die zur Autorschaft geführt hat und Bücher hervorbringen will. Allerdings geht es dabei nicht um Ko-Autorschaft oder Kollaboration, sondern um gegenseitige Inspiration. Befreit von der Last der Familie kann der (hier zumindest nicht in Frage gestellte) männliche Autor sich ganz der Inspiration widmen, die in den Gesprächen mit den Freunden (auch sie hier vorwiegend männlich gedacht) gedeiht und das Subjekt empowered, ein Autor zu werden. Führt nicht aber so die sozial alternative Lebensform Freundschaft wieder zurück zu einer eigentlich sehr konservativen Vorstellung von Autorschaft und Kreativität?
Fazit: Eine eigentlich sympathische Vision einer heteronormativen Lebensweise, die aber durch ein recht deutliches Ressentiment gegen Kinder und einen unhinterfragten Männlichkeitsdiskurs deutlich an Charme verliert: zu einseitig, zu unkritisch, um mitzureißen.